In jeder Klasse gibt es Kinder, die beim Rechnen in zunehmende Schwierigkeiten geraten. Die Zahlen bleiben ihnen fremd. Die Rechnungen werden dann zwangsläufig zählend, mit ‚Tricks’ oder einfach hilflos (scheinbar willkürlich) ausgeführt.
Vor etwa 10 Jahren habe ich diese Erfahrung in einer Integrationsklasse in einem sehr schwachen Einzugsgebiet selbst machen müssen. Immer mehr Kinder waren nicht mehr in der Lage, wirklich anzuknüpfen. Auch die Fördermaßnahmen griffen nicht wirklich. Es wuchs kein echtes Verständnis, das außerhalb der Fördersituation beim eigenständigen Rechnen sichtbar gewesen wäre.
Und schlimmer: Je mehr ich förderte, um so mehr wuchs der innere Widerstand.
Wenn Zahlen den Kindern fremd bleiben, sich deren hilfreiche Strukturen beim Rechnen nicht erschließen, dann ist es vielleicht möglich, auf einer einfacheren Kognitionsstufe zu rechnen. Schließlich haben die Menschen bereits vor Jahrtausenden mathematische Probleme gelöst, als unsere Zahlen noch lange nicht entwickelt waren.
Also lohnt es vielleicht nachzusehen, wie Menschen gerechnet haben, die – wie Kinder, Rechenanfänger und schwache Rechner auch heute noch – mit einem geringeren Abstraktionsvermögen und auf konkrete Anschauung angewiesen – gerechnet haben.
Vielleicht sind ja unsere Kinder in der Art, wie sie denken, näher an jenen Kulturstufen als an der unseren. Vielleicht müssen sie sich erst zu dem Abstraktionsniveau unserer Zahlen vorarbeiten.
Damals erklärte ich den Kindern Anfang der 3. Klasse, dass ich aufgrund der Erfahrungen in der zweiten Klasse beschlossen hätte, „gar keinen Rechenunterricht mehr zu machen, weil das offensichtlich nicht zu einem besseren Rechnen führt.“ Ich wolle stattdessen mit ihnen „Sachkunde machen, nämlich die Geschichte der Zahlen und des Rechnens als Projekt“.
So entstand ein am Ende rund drei Monate währendes Projekt, indem wir angelehnt an Georges Ifrahs ‚Uni-versalgeschichte der Zahlen’ (Frankfurt 1987) ausgehend vom Steinzeitrechnen und von Körperzahlen uns über sumerische, ägyptische und römische Zahlen und Rechenverfahren bis zu unseren heutigen Zahlen und den schriftlichen Rechenverfahren durchschlugen. (Erste Veröffentlichung, in den Jahren 1997 und 1998, z.B. 'Auf fremden Wegen ins Reich der Zahlen in: SWZ)
Es zeigte sich, dass im Januar sogar die lernbehinderten Schüler der Klasse in der Lage waren, verständig mit Zahlen im Zahlenraum bis 1000 zu operieren und insbesondere die schriftliche Subtraktion und Addition mit Begründung der einzelnen Schritte ausführen konnten.
Zentrale Strukturen wie die unterschiedlichen Wertebenen, das Positionssystem und der dezimale Aufbau waren ihnen offensichtlich zugänglich geworden.
Eine Zahl ist nicht nur das, was wir unter einer Zahl verstehen. ‚5’ oder ‚fünf’ kann als Zahl auch ganz anders aussehen. Es gibt so etwas wie 'konkrete Zahlen', die unterschiedlich komplex und daher unterschiedlich zugänglich sind.
Zahl ist nicht gleich Zahl. Es gibt so etwas wie Abstraktionsstufen der Zahl. Und es hilft, die Kinder im Unterricht auf einem Abstraktionssniveau handelnd rechnen zu lassen, das ihrem inneren Abstraktionsniveau entspricht.